Der Weg zum Digital Twin: so gelingt Digitalisierung im Maschinenbau
Zeit, Geduld, Offenheit und gute Kommunikation – für Dr. Daniel Niederwestberg, Head of Product Group & Head of Digital Twin bei der DMG MORI Digital GmbH, alles Faktoren, die es neben innovativer Technologie zum Gelingen der Digitalen Transformation braucht.
Damit fällt auch die Entwicklung des Digital Twin in seine Verantwortung. Gemeinsam mit Prozessintegration, Automation und der Grünen Transformation bildet die Digitale Transformation die vier Säulen des Machining Transformation Ansatzes von DMG MORI ab.
Der 38-jährige versteht sich deshalb weniger als Chef, denn als Brückenbauer zwischen den Fachdisziplinen und Generationen. Auf der EMO 2023 in Hannover zeigte man jüngst das Ergebnis: DMG MORI und SIEMENS stellten dort den ersten durchgängigen digitalen Zwilling für die Bearbeitung mit Werkzeugmaschinen auf Siemens Xcelerator Marketplace vor.
Der vorgestellte Digital Twin verbindet die Digital Native CNC Sinumerik ONE – das aktuell modernste Steuerungssystem für Werkzeugmaschinen – und die Maschinenkomponenten miteinander.
Seit 2018 arbeiten der promovierte Ingenieur und sein Team an unterschiedlichsten Digital Twin Modellen und damit an Löungen, die Unternehmen flexibler machen, nachhaltiges Fertigen ermöglichen und schnellere Time-to-Market Zeiten sichern.
Sie haben gemeinsam mit SIEMENS das Projekt Digital Twin massiv getrieben. Was war der Auslöser?
SIEMENS und DMG MORI haben früh erkannt, dass der Weg, wie wir in der Gegenwart Maschinen designen, zwar funktioniert, aber noch viel Potenzial birgt. Wir wussten, dass Projekte digitaler und kooperativer erledigt werden können und wir so die Zusammenarbeit auf eine ganz neue Ebene heben können. Die Idee des digitalen Zwillings entstand.
Mit ihr kam der Impuls zur Neuausrichtung der SIEMENS Steuerung und dazu, Dinge neu zu denken und Prozesse komplett digital abzubilden. Uns wurde schnell bewusst, dass digitale Transformation vor allem mit der Veränderung von Workflows und Kulturen beginnt und weniger mit der Implementierung eines technischen Features. Deshalb sehen wir es bei DMG MORI auch als unsere Aufgabe, Kontaktängste beim Kunden und natürlich in den eigenen Reihen zu beseitigen. Manche Kollegen und Kolleginnen brauchen Zeit, um sich mit dem Thema Digital Twin auseinanderzusetzen: Die Informationsdichte steigt und Spezialwissen ist erforderlich. Das ist für einen Verkäufer sehr anspruchsvoll – die Beratungsleistungen werden intensiver und fachspezifischer. Wir geben unseren Mitarbeitern diese Zeit und machen sie zu starken Kommunikatoren in Richtung Kunden mit Digitalisierungswunsch.
Welches Handwerkszeug bringen Sie für die Digitalisierung mit?
Meinen ersten Kontakt mit einer 5-Achs-Maschine hatte ich während meines Abiturs im Jahr 2003. Ich habe später Maschinenbau im Bereich Produktionstechnik studiert. Das war perfekt, denn als wir 2018 das Projekt bei DMG MORI starteten, konnte ich eine Menge Wissen einbringen, das zu einem Konzern wie SIEMENS passt: Schon im Studium habe ich mich mit digitalen Prozessketten wie CAD/CAM und Simulation befasst und später auch zu diesem Thema promoviert.
Über die Werkzeugmaschine und die zunehmende Digitalisierung kam ich immer stärker mit der Welt der digitalen Zwillinge in Berührung – die Puzzlestücke meines Berufslebens fügten sich nach und nach zu einem Konzept für digitale Zwillinge zusammen: Wir hatten „plötzlich“ Daten aus Maschinen, Simulationstechniken, schnelle Computer für die Visualisierung und Maschinen-Learning Algorithmen – es waren und sind aufregende Zeiten. Das war auch der Zeitpunkt, als digitale Zwillinge in der Fachliteratur erstmals als Konzept beschrieben wurden.
Das Ergebnis Ihrer Entwicklungsarbeit war auf der EMO 2023 zu sehen. Unter welchen Gesichtspunkten haben Sie die Werkzeugmaschine gewählt?
Auf der EMO haben wir den digitalen Zwilling für eine DMU 40 und ihr physisches Vorbild gemeinsam präsentiert. Das ist eine spannende Maschine und eine der ersten, die mit einer SINUMERIC ONE Steuerung ausgestattet ist. Dies eröffnet Chancen, alle Digitalthemen, die wir angehen wollen, zu realisieren.
Die ersten Schritte im Engineering mit digitalen Zwillingen liegen aber deutlich länger zurück und bezogen sich auf die DMU 340 Gantry. Diese Maschine sollte vor vielen Jahren auf einer Messe gezeigt werden. Allerdings gab es ein paar Hürden, die wir unmöglich vor der Messe meistern konnten. Da wir softwareseitig den Kunden aber unbedingt Ergebnisse präsentieren wollten, entschieden wir uns bewusst für den Einsatz eines digitalen Zwillings. Was soll ich sagen: Es hat wunderbar funktioniert. Deshalb ist das für mich die eigentliche Geburtsstunde des digitalen Zwillings, die an einer Gantry. Man darf auch nicht vergessen: digitale Zwillinge sind kein klassisches Projekt. Vielmehr bestehen sie aus vielen Aspekten, die wir alle bespielen müssen.
Künftig wird das Thema digitaler Zwilling mehr und mehr integriert werden, z. B. bei CELOS X.
Gab es ein spezifisches Werkstück, das auf der EMO stellvertretend mit dem digitalen Zwilling bearbeitet wurde?
Es ist klar, dass sich eine solche Frage fast aufdrängt, da Werkzeugmaschinen ja für die Fertigung von Werkstücken gebaut werden. Da wir bei DMG MORI aber auch Prozesse für Bauteile digital ausgelegen, möchte ich die Frage anders formulieren: Was sind die unökonomischsten Maschinen? Das sind jene, die Bauteile minderer Qualität oder Ausschuss herstellen, leerlaufen oder die für etwas genutzt werden, für das sie nicht gedacht sind. Kurz: Hier werden Ressourcen verschwendet. Digitale Zwillinge haben das Ziel, all jene Tätigkeiten, die rund um die Maschine anfallen, die aber nichts mit der Herstellung eines Qualitätsbauteils zu tun haben, von der Maschine wegzuholen. Damit sind Trainings, Programmierungen, das Ramp-up neuer Bauteile, Einfahrversuche, Bauteil-Analysen oder Optimierungen gemeint. Gelingt das, kann die reale Maschine optimal ausgelastet werden.
Man liest immer öfter vom industriellen Metaversum. Was sagen Sie als Experte dazu?
Das ist zwar zentrales Thema meines Jobs, die Kommunikation ist dennoch nicht immer leicht. Das liegt u. a. daran, dass viele Menschen mit dem Metaversum häufig virtuelle Räume assoziieren, in denen sich Menschen treffen, Projekte besprechen oder shoppen – Themen, die im B2C Umfeld populär sind.
Mir ist deshalb die Definition für „Metaversum“ wichtig: Es ist ein Raum, in dem man kooperativ miteinander arbeitet. Passiert das unter Einsatz von Virtual Reality? Nutzen die Beteiligten gemeinsame Daten, Modelle und Visualisierungen? Natürlich lässt sich in VR-Räumen ein Maschinenreview machen oder ein Entwicklungsschritt nachvollziehen, z. B. zu Schulungszwecken. Das ist natürlich ein hohes Niveau. Dennoch ist aus meiner Sicht das industrielle Metaversum gekennzeichnet durch eine Verbindung zum realen Objekt – einer echten Maschine. Hier entwickelt sich aktuell zwar vieles, aber die Zahl der vorzeigbaren Use-Cases ist nach wie vor begrenzt. Ich halte es deshalb für verfrüht, das als Metaversum zu bezeichnen.
Wichtig ist diese Differenzierung auch vor einem Hintergrund: Bei DMG MORI sind wir für alle Unternehmen da – unabhängig von der Phase ihrer digitalen Transformation. SIEMENS und NVIDIA zeigen mit ihren industriellen Metaversen exemplarisch auf, wo die Reise hingehen kann. Wir holen bei DMG MORI aber jeden dort ab, wo er steht.
Maschinenbau trifft auf Digitalisierung – welche Auswirkungen hat das auf das Personal?
Ich muss nur auf meine eigene Vita schauen: Als studierter Maschinenbauer bin ich sukzessive in die Welt der Digitalisierung hineingewachsen. Streng genommen bin ich heute in einem Softwareunternehmen innerhalb der DMG MORI tätig. Die Entwicklung ist extrem dynamisch. Entsprechend haben wir nicht nur Softwareentwickler, sondern auch SW-Architekten, Dev-Ops-Fachleute, Release Manager, Qualitätssicherer, Maschinenbauer und Mechatroniker, um nur einige zu nennen.
Das Wichtigste ist die Anerkenntnis, dass alles Spezialisten sind. Das bedeutet, dass man als Maschinenbauer nicht vorankommt, wenn man zu tief in die Softwarematerie eintaucht. Ähnlich ist es beim Entwickler: Er muss Mechanik oder Elektrik von Maschinen nicht bis ins kleinste Detail verstehen. Was gebraucht wird, ist ein Mittler; einer, der für das Verständnis zwischen den Fachdisziplinen sorgt. So kann sich das gesamte Konstrukt nach und nach mit Leben füllen kann – von der richtungsweisenden Idee bis hin zu realen Mehrwerten für unsere Kunden. Der Brückenbauer bei DMG MORI für all das bin ich.
Die Digitalisierung wird immer mehr Cross-Funktionen und Berufsbilder entstehen lassen, die Mechanik, Elektronik, Maschinenbau und andere Bereiche miteinander verbinden. Im Gegenzug dazu wird sich die IT noch mehr spezialisieren. Wir werden deshalb künftig noch mehr Verständnis für die anderen Arbeitsweisen anderer Berufsgruppen aufzubringen müssen. Hier sehe ich vor allem für die Lehre spannende Entwicklungen.
Stichwort Entwicklung: Wo sehen Sie sich in der digitalen Zukunft?
Wir haben bei DMG MORI schon viel erreicht. Dennoch werden viele Entwicklungen noch Zeit brauchen. Einzelne Firmen haben Entwicklungen proprietär getrieben – digitale Zwillinge können bis heute nicht wirklich miteinander interagieren. Inzwischen können wir aber Informationen auf ganz anderem Niveau sammeln und teilen, bald verteilt berechnen und Prozessketten von vorne bis hinten verbinden. In wenigen Jahren wird der Impact bei den digitalen Zwillingen so groß sein, dass sie miteinander interagieren können.
Mit meinen 38 Jahren ist mir bewusst, dass wir immer noch am Anfang der Digitalisierung stehen. Wir werden viele spannende Sachen sehen, die heute noch gänzlich außerhalb unserer Vorstellungskraft liegen. Auch, weil sie auf ganz andere und neue Arten und Weisen entstehen werden, die uns heute noch gar nicht bewusst sind. Im Kern bleibt meine Aufgabe dieselbe: Maschinenbauern zu helfen, Maschinen zu bauen und Kunden zu unterstützen, diese Maschinen für die Wertschöpfung zu benutzen. Es bleibt spannend.